Mit den Worten „So entstand am Neckar ein kleines, aber höchst kostbares Bauwerk aus dem Geist der Prager Hofkunst, ein „Juwelenschrein“, ein „Wunderwerk“, eine „Schatzkammer“ mittelalterlicher Kunst“ beschreibt Hansmartin Decker- Hauff in seinem Buch „Geschichte der Stadt Stuttgart“ die Veitskapelle.

Im ausgehenden turbulenten 14. Jahrhundert entsteht 1380 in Mühlhausen am Neckar die Veitskapelle. Dieses Jahrhundert war von Kriegen, Aufständen und der Pest geprägt. Die christliche Kirche stand durch äußere und innere Einflüsse vor einer großen Zerrissenheit und Spaltung. Rivalisierende Päpste kämpften um die Macht in der Kirche. Zugleich war das 14. Jahrhundert durch den hundertjährigen Krieg zwischen Frankreich und England geprägt, der 1396 endete. Während im römisch- deutschen Reich fast ständig zwischen aufstrebenden Fürsten Machtkämpfe aufflammten eroberten die Osman fast den gesamten Balkan. Des Weiteren wütete die Pest, der schwarze Tod, durch Europa und brachte rund ein Drittel der Bevölkerung (ca. 24 Millionen Menschen) um. Die Pest löste auch die Judenverfolgung aus und erste Aufstände der einfachen Bevölkerung gegen die Oberschicht begannen. In diesem Jahrhundert entsteht dank dem Stifter Reinhart von Mühlhausen die Veitskapelle. 

Heute ist sie die älteste unzerstörte bzw. original erhaltene Kirche in Stuttgart. Das Besondere der Veitskapelle ist das in einer ungewöhnlichen Geschlossenheit mittelalterliche Wandmalereien und mittelalterliche Altäre noch vorhanden sind und bis 1560 weitere Ausstattungsstücke erhielt. Da sie nie zerstört, umgebaut, renoviert oder geplündert wurde zeigt sie in einer ungewöhnlich guten Weise ein komplett erhaltenes Stück Mittelalter in Stuttgart. Des Weiteren ist Sie Beweis für die ehemaligen engen Beziehungen zwischen Schwaben und Böhmen bzw. zwischen Neckar und Moldau im 14. Jahrhundert, die auch beim Bau und der Gestaltung ihre Spuren hinterlassen haben. Zugleich ist die Veitskapelle die ehemalige Heimstätte des ältesten Kunstwerks von internationalem Rang auf Stuttgarter Boden. Ihr ehemaliger Hochaltar von 1385 wurde 1902 in die Staatsgalerie entführt. 

Die kostbaren Wandmalereien stammen alle aus dem 15. Jahrhundert und wurden nie übertüncht. Daher zählen die Wandmalereien, besonders im Chor, zu den besten erhaltenen Wandmalereien des Mittelalters nördlich der Alpen. Die Ausmalung umfasst ein übergeordnetes Programm, das die Schilderung der Heilsgeschichte vom Sündenfall bis zur Wiederkunft Christi umfasst. Diese einzigartige Zusammenstellung und Vielfalt mit verschiedenen Besonderheiten bzw. Darstellungen, die außergewöhnlich sind, zeigen im Schiff: Szenen aus dem Alten und Neuen Testament (einst rund 60 Szenen!) und ein Credo; im Chor: das Leben des heiligen Veit und Marias und der weiteren ehemaligen Titelheiligen, das Jüngste Gericht und im Gewölbe die Evangelistensymbole und Kirchenväter. Zugleich sind die heutigen drei Altäre wunderbare Zeugnisse mittelalterlicher Schnitzkunst. 

In der Bibel steht: „Du sollst dir kein Bildnis machen“. Doch laut Papst Gregor II (Papst von 715- 731) sind Bilder zur Belehrung dar! Bilder sind keine heidnischen Objekte der Anbetung, sondern Belehrung für die, die die Schriftworte der Bibel nicht lesen können. Die Veitskapelle ist sozusagen eine „biblia pauperum“, eine gemalte Bibel für die Armen. Sie ist eine Illustration biblischer Geschichten für Menschen, die damals nicht lesen bzw. Latein konnten, zu denen im Mittelalter fast alle Menschen zählen. So sind die Bilder christliche Volksaufklärung. Sie machen das Leiden Jesu anschaulich und lassen Mitleiden. Sie tauchen in alle Details der biblischen Geschichte ein und warnen eindrücklich vor Versuchung und Höllenstrafe. Bilder zeigen das Leiden der Märtyrer und die Triumphe der Märtyrer über das Leiden. Daher trösten Sie und Worte werden zu Emotionen! 

Durch ihre Ausstattung ist die Veitskapelle ein Zeugnis des christlichen Glaubens aus dem Mittelalter und ein Reiseführer vom Diesseits zum Jenseits. In erster Linie erzählen Kirchen vom Glauben und erst in zweiter von Kultur-, Stadt- und Kunstgeschichte, da „man nichts Wesentliches über den Dom aussagt, wenn man nur von den Steinen spricht.“ In der Veitskapelle beginnt die Reise im Schiff im Diesseits mit den biblischen Szenen und dem Credo. Durch das Durchschreiten des Chorportals mit den Abbildungen der klugen und törichten Jungfrauen betritt man den Chor und damit das Jenseits. Die Ausrichtung des Chors nach Osten, da das Reich Gottes von Osten kommen wird.